Antlitz biomorph


Rede zur Ausstellung Menschenbild – Christusbild Stadtkirche Roth Juni 2003

Ich möchte versuchen, die Assoziationen, Gedanken und Gefühle, die mich bei meiner Arbeit an den Bildern bewegt haben, in Worte zu fassen, in ein Gerüst, bei dem aber doch viele Teile offen bleiben müssen. Jetzt aber zum Thema selbst. Welche Bedeutungsebenen erschließen sich für mich? Welchen Zugang zu diesem Thema habe ich selbst? Diese Fragen haben mich zu Beginn beschäftigt. In meinen bildnerischen Arbeiten der letzten Jahre war das zentrale Thema:
die Identität. Das schließt automatisch ein: Sein und Schein, Inneres und Äußeres, Oberfläche und Substanz. Mir ging es um die Fragen: „Wer bin ich? Wohin gehe ich? Was ist meine Aufgabe in diesem Leben? Wie bin ich gedacht? Wie ist mein Handeln? Erreiche ich dieses Ziel in meinem Leben? Arbeiten zu Kaspar Hauser im letzten Jahr führten zu einer Serie von Gesichtsstudien. Aus diesen entwickelten sich dann die zwölf Köpfe, die zwölf Antlitze, die hier im Kirchenraum ausgestellt sind.

Für mich steht das Gesicht als Symbol für den Menschen, das was ihn ausmacht, für seine Seele, als Spiegel des Inneren und Äußeren. Es zeugt von der Kraft, von der Lebensenergie, die den Menschen durchströmt, welche durch ihn wirkt und die er auch ausstrahlt. Im Gesicht spiegelt sich jede Emotion wider. Schicht um Schicht, Freude wie Leid wird abgelegt. Die Summe aller menschlichen Erfahrungen ergibt den Ausdruck. Der Mensch ist eingespannt in einen zeitlich begrenzten Rahmen zwischen Geburt und Tod. Er ist Teil der göttlichen Schöpfung. Sein Lebensweg ist bestimmt von einer ständigen Auseinandersetzung zwischen Polaritäten wie Gut und Böse / Wahrheit und Lüge / Sicherheit und Angst / Hoffnung und Trauer / Liebe und Verzweiflung. Ich sehe den Menschen als einen Suchenden, auf der Suche nach sich selbst, nach Gott, auf der Suche nach der Einheit im Fragmentarischen, nach dem, was jeden Menschen ausmacht. Er ist ein Getriebener zwischen Hoffnung und Verzweiflung, Sicherheit und Bedrohung, Struktur und Wandel, Gewissheit und Ambivalenz. Als Ausdruck dieses Gefühls habe ich fast alle Köpfe in die linke Bildhälfte gesetzt. Der Mensch ist nicht in seiner Mitte. Er leidet an sich selbst. Er kämpft mit seinen Enttäuschungen und Zurückweisungen. Er hat seinen Ruhepol in sich noch nicht gefunden und ist ständig auf der Suche nach innerem und äußerem Halt. Er ist nicht aufrecht.

Ich habe in den letzten Monaten Menschen betrachtet, auf Straßen und auf Plätzen, junge Menschen, Menschen in der Mitte des Lebens bis hin zu alten Menschen. Ich habe wenige gesehen, die innere Freude und inneren Frieden ausgestrahlt haben, auch wenige, die noch aufrecht gegangen sind, vielleicht noch aufrichtig sich selbst gegenüber waren. Vieles bleibt an der Oberfläche auf allen Ebenen betrachtet. Der Mensch leidet an seinen eigenen Handlungsweisen. Die Köpfe sind für mich Sinnbild für die Facetten der menschlichen Wunden. Ich sehe das Dasein des Menschen in einem Spannungsfeld, in dem er vielen Energien ausgesetzt ist, in dem er ständig Entscheidungen für sich und andere mit oft weitreichenden Folgen treffen muss. Das Kreuz ist Symbol für dieses Spannungsfeld. Es ist Schnittpunkt von Göttlichem und Menschlichem. Die Frage von Schuld und Erlösung wird immer wieder gestellt werden. Jeder einzelne Mensch muss immer wieder neu durch seinen Lebensweg Stellung beziehen. Wenn ich mich auf den Weg gemacht habe, dann kann auch Freude erwachsen und ich sehe, dass das Suchen und Finden Freude auslöst, dass mich der Weg wieder zur Mitte zurückführt. Liebe, Zuneigung, Kinder, Kontakt zu Mitmenschen können ein Anstoß dazu sein. Wenn man sich berühren lässt, passiert im Innern etwas, dann entstehen Gedanken, Bilder, Assoziationen und mein Mittel, diese Dinge an die Oberfläche zu holen, ist nicht die Sprache, sonst würde ich Gedichte schreiben oder Texte verfassen, sondern ich hole, was in mir passiert, über Bilder an die Oberfläche. Das ist ein äußerst komplexer Prozess, der nicht voraussehbar und auch nicht vollkommen steuerbar ist. Bei jeder Form von kreativem Schaffen ist der Wunsch vorhanden, etwas darzustellen, umzusetzen, aufzuzeigen, sich selber etwas klar zu machen und los zu lassen und deshalb ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass andere das nachvollziehen können, weil in anderen Menschen ähnliche Prozesse ablaufen, wenn sie sich darauf einlassen, ohne dass alle es selbst umsetzen müssen. Es kann natürlich die Frage auftauchen, wo bleiben Lachen, Leichtigkeit, Freude, die selbstverständlich einen wichtigen Teil des Lebens ausmachen; Wenn sie allerdings an erster Stelle kommen, ohne jegliche Tiefe, so haben sie wohl den Zweck, Dinge zu verstecken, zu verdecken, auszublenden. Es ist vielleicht eine verständliche Flucht vor den angesprochenen Fragen „Wer bin ich?“ … Sie enthebt den Menschen der Notwendigkeit, sich selber im Spiegel eingehender zu betrachten, denn am Ende stehen immer die letzten Fragen. Die Frage nach dem Leiden, nach dem Tod. Und dann? Wenn man den Schmerz, das Leid, den Tod in Gedanken auf sich genommen hat, sich der Angst ausgesetzt, aber gleichzeitig eine Befreiung erfahren hat, dann kommt auch die Freude wieder zurück, weil die Gewichte austariert sind. Nur die meisten können mit dieser Freiheit und der damit verbundenen Dualität und Offenheit nicht umgehen.

Jeder Mensch hat in seinem Leben Aufgaben zu erfüllen, auch wen vielen dies nicht bewusst ist. Einen Beruf erlernen, Kinder zu erziehen, Bindungen einzugehen, auf Menschen zuzugehen. Die Frage ist, wie man damit fertig wird, wie man die Aufgaben löst. … Findet man seine Mitte – seinen Wesenskern? Die Gesichter scheinen uns anzusehen und gleichzeitig in die Ferne zu schauen. Umgekehrt, wenn wir sie betrachten, haben wir nicht den Eindruck, dass es Facetten unseres eigenen Selbst sein könnten, die uns im Spiegel anblicken? Mir geht es in meinen Bildern um die Suche nach der Einheit, der Mitte des Menschen, dass er sein Sein so findet, so ausleben kann, wie er gemeint ist, um die Erkenntnis dass sein Kern, die wahre Mitte in ihm ist, die innere Quelle, aus der er seine Kraft schöpft und durch die er mit der Schöpfung verbunden ist. Dieses Ziel gilt es zu erreichen, damit innere Verschiebungen und Risse einem harmonischen Ganzen weichen und somit alle Spannungen abfallen. In der Mitte gibt es keine Reibung. Für mich ist Menschsein wie ein großes, gewebtes, unauflösliches Tuch, bei dem alle Teile indirekt miteinander verbunden sind, wobei die Kräfte selbst, die alles zusammenhalten, unsichtbar bleiben, und jeder trägt auf seine Art dazu bei, dass dieses Tuch gleichermaßen fest und flexibel bleibt, Halt und Freiheit gewährt.

Margit Schuler

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